Blick zur Seite (01/04/2002)

immer wieder geht mein Blick zur Seite
da, neben meinem Schreibtisch
auf dem Boden
auf meinem Teppich
liegt ein Mann
bis vor ein paar Monaten habe ich ihn
gehasst. fast.
wenn er im haus war
bekam ich ausschlag
- mental.
höflich erzogen, liess ich höflichkeit
höflichkeit sein. in meinen
augen
verdiente er sie nicht.
ich emanze.
er chauvi. macho.
schwulenfeindlich.
rechts.
er benahm sich wie ein
arschloch.
ich behandelte ihn wie eins. 
 
zeitsprung. zeitpunkt: heute morgen.
genauer: sechs
ort: küche, meine wg
war es fügung oder
trivial das ende einer sauftour
der mann sitzt am tisch
ich, aufgewacht, aufgeweckt worden,
gehe nochmal rein.
eigentlich nur um ein glas wasser.

nochmal: zeitsprung:
neun uhr morgens.
was ist passiert?
wir haben drei Stunden geredet.
nicht geflachst.
nicht diskutiert.
er hat erzählt.
ich habe zugehört.
ich habe erzählt.
er hat zugehört.
glaube ich.
immerhin: ich war nüchtern
- er trank zum frühstück noch
pernod. 
 
aber es war ein gespräch
über ernstes, menschliches
allzu menschliches
rübergebracht oft kodderig
doch glaubwürdig
zu honorierende ehrlichkeit
und offenheit
einer frau gegenüber
die kaum ein hehl aus ihrer
tiefen abneigung gemacht hatte
zugegeben:
ich hatte mich auch verändert
hatte mich zuvor schon
immer wieder
gefragt
wie es kam
dass er mir manchmal
fast sympathisch war
nun weiß ich
feind ist nicht gleich feind
mensch ist immer mensch
meistens
jedes gesicht
eine geschichte.
nun kenne ich eine mehr.
bruchteilhaft.
habe wieder was dazu gelernt.

mein friedensangebot
war mein teppich
ein kopfkissen
eine decke
mein friedliches zimmer
damit er seinen rausch
ausschlafen konnte.

es gibt noch zeichen und wunder.