Neulich, es war an einem halbwegs
trockenen Tag in einem sonst verregneten Sommer, habe ich jemandem im
Garten geholfen. Wir haben zusammen Unkraut gejätet, uns
unterhalten, und der Mann, dem der Garten gehört, rauchte einen
Zigarillostummel, während er, wie ich, auf allen Vieren im Beet
arbeitete.
Dabei schielte ich immer wieder
sehnsüchtig auf die schwarzen Johannisbeerbüsche und ihre Früchte.
Schließlich pflückte ich mir welche, und sie waren so schmackhaft,
dass mir ein lautes "Ohhh, wie köstlich!" entfuhr. Was aus diesem kleinen Mundraub entstehen sollte, davon handelt diese Erzählung.
uschi dreiucker / pixelio.de |
Der Mann, dem der Garten gehörte,
sagte daraufhin: "Ich hole mal ein paar Schälchen, dann können
wir, bevor Sie gehen, noch zusammen Johannisbeeren pflücken."
Froh über die Abwechslung, dachte ich mir nichts dabei (außer, dass
ich beim Pflücken Gelegenheit haben würde, mir ein paar Handvoll
Beeren in den Mund zu schieben...). Als ich schließlich gehen
musste, kippten wir unsere Ausbeute zusammen und kamen auf ein
üppiges Schälchen. Und dann sagte er auf seine gewohnt brummige
Art, die wären für mich! Oh. Wie war ich da glücklich. Was für
ein schönes, unerwartetes Geschenk, inklusive des gemeinsamen
Pflückens.
Daheim stellte ich dann fest, dass ich
so viele Beeren gar nicht schnell genug aufessen konnte, bevor sie
schlecht wurden - oder ohne, dass mir schlecht würde. Hm. Was
tun? Ah! Marmelade!!! Geht einfach, schnell und schmeckt super. Das
Einkochen ergab ein ziemlich großes, Glas, und ein ganz kleines Glas
schwarzrot glänzender Marmelade. Ich freute mich schon auf das
Frühstück am nächsten Tag!
Maja Dumat / pixelio.de |
Der nächste Morgen aber war der Tag,
an dem der Coupversuch in der Türkei Schlagzeilen machte, nur zwei
Tage, nachdem ein Mann in Nizza einen LkW dazu benutzt hatte, über
80 Menschen umzubringen, die an der Strandpromenade den französischen
Unabhängigkeitstag gefeiert hatten.
Mir war nicht nach Marmelade.
Mir war nach Orhan.
Orhan hatte seit gut 20 Jahren den
Kiosk gepachtet, der wenige Meter vor meiner Haustür an der
deutsch-niederländischen Grenze steht. Er war ein kräftiger Mann
jenseits der 50, im ländlichen Anatolien, in der Türkei,
aufgewachsen. In mehr als einer Hinsicht erinnerte er mich an einen
Fels in der Brandung, oder einen tief verwurzelten Baum.
Rainer Sturm / pixelio.de |
Wenn es auf GoogleMaps eine Funktion
gäbe, mit der man sehen könnte, an welchen Orten besonders viel
Liebe auf der Welt ist, dann würde dieser kleine Kiosk taghell
erstrahlen.
neurolle - Rolf / pixelio.de |
Ich habe das Glück, dass er und ich Freunde sind (dass
ich das seinem sanften Tritt in den Hintern zu verdanken habe, ist
eine andere Geschichte...).
Und an jenem Morgen war mir danach, ein
Marmeladenbrot mit einem Freund zu essen und zu hören, wie es ihm ob
der Nachrichten aus der Türkei ging. Und ob er in den türkischen
Nachrichten mehr heraus gefunden hatte über die aktuelle Lage, als
die deutschen Medien zu berichten wussten. Ich packte das kleine Glas
Marmelade, einen frischgebackenen Laib Brot und ein Messer ein, und
ging barfuß die Stichstraße zum Kiosk hinab.
Stephan Wengelinski / pixelio.de |
Die Tür zum Kiosk stand bereits offen,
aber Orhan war nicht zu sehen, nur P., ein Stammkunde, und W., ein
Bekannter aus dem niederländischen Nachbarort.. W. war damit
beschäftigt, den Kiosk aufzuschließen, und sagte mir nach einer
herzlichen Umarmung und einem strahlenden Lächeln, dass Orhan
verschlafen hätte und gleich käme.
P. kassierte einstweilen, wenn die
Kunden das Geld passend hatten - rausgeben konnte er nicht, weil er
sich mit der Kasse dann doch nicht gut genug auskannte. Nach ein paar
Minuten kam Orhan. Er machte sich mit Schwung daran, den
Kiosk für den Tag vorzubereiten, und erzählte, dass er bis 2 Uhr
morgens die Nachrichten verfolgt hätte und dann nicht habe
einschlafen können. Beim Reden sortierte er Zeitungen ein, hängte
Ware nach draußen und war offensichtlich momentan zu beschäftigt,
um zu frühstücken.
Ehe ich's mich versah, hatte ich einen
seiner wunderbaren Kaffees in der Hand (er verwendet einen sehr guten
Biokaffee, und nimmt trotzdem nur 1€ pro Becher, ganz egal ob man
einen Kaffee oder Latte Macchiato bestellt, und außerdem merkt er
sich bei seinen Stammkunden, wieviel Zucker sie nehmen), und saß
neben P., der ebenfalls einen Kaffee zubereitet bekommen hatte.
S. Hofschlaeger / pixelio.de |
Als ich sah, dass Orhan noch eine Weile
beschäftigt sein würde, schnitt ich in seiner winzigen Küche ein
paar Scheiben Brot ab, um ihm und mir Marmeladenbrote zu schmieren.
Und weil er einer der großzügigsten Menschen ist, die ich kenne,
kam es mir ganz normal vor, den Mann namens P., den ich bisher nur
vom Sehen kannte, zu fragen: "Willst du auch ein
Marmeladenbrot?" Er wollte.
So saßen wir dann vor dem Kiosk unter
der japanischen Blütenkirsche, die von der Stadt auf Orhans
Veranlassung vor Jahren gepflanzt worden war, und frühstückten
gemeinsam. Und während er genüßlich das Brot mit der schwarzen
Johannisbeermarmelade kaute, fing P. an, mir von seinem Leben zu
erzählen. Von den vielen Reisen, nach Asien und Lateinamerika, die
er in seinem Leben gemacht hatte. Von den vier Monaten, die er in
einem ausländischen Gefängnis verbracht hatte. Von seinen psychischen Problemen, und der Krebserkrankung, die ihn einen Teil seiner Leber gekostet hatte.
Wir sprachen über unsere Familien, die
beide Migrationshintergrund haben, wobei die Familie meines Vaters
noch im Krieg aus dem damals deutschen Stettin geflohen war, während
seine Familie erst Jahre nach Kriegsende aus Polen flüchtete. Da er
und seine Brüder anfangs nur Polnisch konnten, wurden sie als
Polacken beschimpft. Ich war in Frankreich, wo meine Familie ein paar
Jahre wohnte, als "boche" beschimpft worden.
Und ich erfuhr, dass P. am Tag zuvor
seinen Bruder beerdigt hatte. Er sprach davon, wie dankbar er
war, dass er sich vor dessen Tod noch
mit ihm hatte aussöhnen können. "Verzeihen, das ist so
wichtig," sagte er, "das ist fast das Wichtigste, was es
gibt. Früher war ich nicht so, aber jetzt weiß ich das."
Zwischenzeitlich haten wir jeder zwei
Marmeladenbrote gegessen, und ich wollte allmählich nach Hause. Zum
Abschied dankte ich P. für die Begegnung und das Gespräch. Er sah
mich an, lächelte, und meinte: "Nein, ich habe zu danken."
Ich glaube, wir sahen beide die Welt nicht mehr ganz so düster, wie
noch vor den gemeinsam verzehrten Stullen...
gänseblümchen / pixelio.de |
Erst waren es nur ein paar
Johannisbeeren. Dann ein kleines Glas Johannismarmelade. Dann eine
kleine Geste, deren stille Wellen vielleicht noch weiter eilen
werden, über den Tag und die Begegnung hinaus. Man kann nie
wissen...
©
2016, Constanza Fest/ www.praxisfuerinnerenfrieden.de &
www.beobachterin.blogspot.de
eine so schöne geschichte!
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